Ich lernte Silvia als eine künstlerische Seele in der Tracht einer evangelischen Ordensfrau kennen. Im Jahr 2014 wirkten wir mit bei der «Winterthurer Passion», einem geführten Stadtrundgang, wo mit moderner Kunst die Passionsgeschichte Jesu reflektiert wurde. Die Diakonisse erzählte mir ihre Geschichte und schlug vor, dass ich einen Film mit ihr drehe. Sie leitete Tanz-Workshops und hatte die Idee, auf dem Gelände des ehemaligen KZ Bisingen Performance-Szenen aufzuführen.
Sie stellte sich einen kurzen Auftragsfilm vor. Ich war von ihrer Geschichte und Person fasziniert. Um ein möglichst wahrheitsgemässes und vielschichtiges Porträt von ihr zu sein, durfte der Film aber nicht ihr Projekt sein. Wir einigten uns also darauf, dass ich der Regisseur bin, dass ich keinen Auftragsfilm für sie mache, sondern dass sie sich einlässt auf einen richtigen Dokumentarfilm. Ich begann damit, dass ich mir eine Kamera kaufte, eine Digital Bolex. Der Film wurde übrigens nur mit privatem Budget von ca. 20'000 Franken realisiert, ohne Geld der Filmförderung oder des Fernsehens.
Weder Schwester Silvia, noch ich wussten damals, auf was wir uns eingelassen hatten. Eben das fasziniert mich so am nonfiktionalen Film – vor allem im Fall von Langzeitbeobachtungen. Das Drehbuch dieser Geschichte wurde nicht von mir geschrieben. Auch Silvia selbst konnte sie nicht voraussehen. Nonfiktionaler Film berührt hier das Geheimnis der Vorsehung.
Da die Geschichte zuerst kein Ende fand, filmte ich Silvia immer wieder während drei Jahren. Irgendwann fällt sie eine dramatische Entscheidung. Ich trete als Regisseur im Film auf und frage sie, ob das Filmprojekt einen Einfluss hatte auf diese Entscheidung. Sie bejaht dies klar.
Das wirft eine Frage der Ethik auf. Müsste ein Dokumentarfilm ein Leben nicht so zeigen, wie es ist, ohne durch das Filmprojekt in jenes einzugreifen? Tatsächlich beeinflussen Dokumentarfilme das dargestellte Leben fast immer. Die Tradition des Essayfilms und des Cinéma Vérité, in welcher mein Film steht, versucht, die Person hinter der Kamera mit ins Spiel zu bringen. Die ethische Frage wird sich am Ende aber daran entscheiden, ob ich als Filmemacher eher interessiert war an einer möglichst starken Story, eher «kalte Kamera» war, oder doch eher Mitmensch mit einem Gewissen und liebenden Herzen.
Mein Kameramann und ich haben uns für sorgfältig inszenierte, lange Kameraeinstellungen entschieden. Der Film sollte möglichst wenig Schnitte haben und mit strenger Schönheit zur spirituellen Kontemplation einladen.
Lukas Zünd